„Mein
Gott, wer fährt denn heute noch nach Ungarn, wo einem doch durch
Billigflüge die ganze Welt offen steht? Das war doch früher
mal was für die Parteikader der ehemaligen DDR oder für
irgendwelche Kegelclubs aus dem Westen, die sich am Plattensee einen
billigen Rausch antranken! Aber heute! Und laufen kann man doch überall.“
So ähnlich könnte ein spontaner Zeitgenosse das Ansinnen
des Lauftreff kommentiert haben, heuer einmal seine Herbstfahrt von
Italien nach Ungarn zu verlegen. Zugegeben, es gibt spektakulärere
Gegenden auf dieser Welt. Bei diesem Land muss man genauer hinsehen.
Sein Charme erschließt sich dem Besucher nicht sofort. Interessant
wird das Land erst, wenn man ein wenig seine Geschichte mitdenkt.
Als Teil der Habsburger Donaumonarchie war es eng mit der deutschen
Geschichte verbunden, ein Bezug, der in der Zeit des Nationalsozialismus
einen traurigen Höhepunkt erlangte. Bei der Wiedervereinigung
spielte Ungarn keine geringe Rolle, wie wir alle wissen, und nach
der EU-Osterweiterung ist es weiter ins politische Interesse geraten.
Gleichwohl, der Grund der Reise der Teublitzer war natürlich
zu allererst, ein paar ruhige Tage zu verbringen, einfach zu schauen,
verbunden mit einem Halbmarathon, der wieder als Höhepunkt der
Laufsaison gelten sollte. Dafür war gleich Budapest gerade recht.
Die gigantische Fülle der historischen Bauten erschlug den Besucher
förmlich. Eine Stadtrundfahrt führte zuerst ins ältere
Buda, zu Matthiaskirche, Fischerbastei und auf den Gellertberg, bevor
es ins gegenüberliegende Pest ging mit dem Prachtbau des Parlaments.
Es gab insgesamt viel „Neo“ zu sehen, Neoklassizismus,
Neogotik usw., und man glaubte, ähnliches irgendwo schon mal
gesehen zu haben: Der Wille hinter den anderen Metropolen der Donaumonarchie
nicht zurückzustehen, ist ganz offensichtlich. Gleichzeitig tut
sich hier ein seltsamer Kontrast auf: Auf der einen Seite die vertraute
Architektur, schlägt man jedoch eine Zeitung auf oder hört
die Leute sprechen, könnte man zweifeln, ob man sich überhaupt
noch in Europa befindet. Wir wissen jetzt, dass dies mit einer
andersartigen Sprachtradition zusammenhängt.
Die beste Aussicht auf die Stadt bot sich dem Betrachter von dem schon
angesprochenen Gellertberg. Und wer schon einmal in Prag war, dem
mochte ein Vergleich mit dieser Stadt in den Sinn kommen. Hier die
Donau mit ihren mächtigen Brücken ,
vor allem der Kettenbrücke, die das
Stadtbild beherrschen, dort die Moldau mit der repräsentativen
Karlsbrücke. Beide Flüsse teilen die Städte, Prag in
Hradschin und Kleinseite, Budapest in Buda und Pest. Politisch und
kulturell waren sie Zentren der Habsburger Donaumonarchie und haben
den Charakter von Metropolen ihrer jeweiligen Länder bewahrt.
Es heißt so schön: „Alle
Wege führen nach Rom“, auf Budapest träfe dieses Wort
noch eher zu. Außer einer kreuzen alle Autobahnen Ungarns die
Stadt, sie besitzt sechs Universitäten und 1/5 aller Ungarn
lebt hier. In der Tat, Budapest verharrt nicht in seiner Geschichte,
wenn sie auch das Pfund ist, mit dem es wuchert, um die Fassaden
der alten Häuser wieder in Ordnung zu bringen. Allenthalben ist
Aufbruchstimmung zu spüren, wovon 67 Theater und unzählige
Ausstellungen zeugen. Leider hatte der Tag unangenehm begonnen, denn
Angelika Pesold, die mit Mann und zwei Kindern mitgereist war, war
beim Frühstück im Hotel die Handtasche abhanden gekommen,
mit Geld und Wertsachen, deren immateriellen Wert sie besonders bedauerte.
Hat es eine Bedeutung, dass Ladislaus, der nach Stephan zweitwichtigster
König Ungarns gewesen sein soll, für Diebstahl die drakonische
Strafe des Abhackens der Hand einführte? Wir wollen aber
dem Ungarischen Volke nicht Unrecht tun, denn in dem Frühstücksraum
waren viele Nationen vertreten und solche Niedertracht läßt
sich überall finden.
Zum Glück war dieser Vorfall kein schlechtes Omen für die
nächsten Tage. Es wäre ja auch zu schade gewesen, denn am
nächsten Tag folgte der romantische Teil der Reise, eine Fahrt
zum Sissyschloß nach Gödöllö. Die Romantik hielt
sich aber auch wieder in Grenzen, denn Zustand und Geschichte des
Barockschlosses kündeten sehr „realistisch“ von den
Wirren der Zeiten, besonders der nach 1945, die von kultureller Ignoranz
und verbohrter Ideologie geprägt war. Der jetzt restaurierte
Teil diente als Altenheim, im restlichen Teil hatten die Russen Quartier
bezogen, mit den entsprechenden Folgen. Andererseits schien die Hauptdarstellerin
selbst, Kaiserin Elisabeth, keineswegs dem romantisierenden Bild,
wie man es den Sissyfilmen entnehmen kann, zu entsprechen Im Gegenteil:
Nachdem die Freiheitsbewegung in Ungarn 1848 wie überall in Europa
gewaltsam niedergeworfen worden war, erkannte Elisabeth die
Zeichen der Zeit und setzte sich für mehr Selbstbestimmung des
Ungarischen Volkes ein. Als verantwortungsvolle Regentin lernte
sie ungarisch, dass sie in Wort und Schrift beherrscht haben soll.
Auch das Schloß selbst, auch wenn man berücksichtigt, dass
vieles von der ursprünglichen Einrichtung verloren gegangen ist,
läßt auf keinen übermäßigen Luxus schließen.
Eine beiläufige Bemerkung der Schlossführerin rundet schließlich
das Bild einer aufgeklärten Frau ab: Ihr Lieblingsdichter sei
Heinrich Heine gewesen. Die Verse des Dichters der Lorelei klingen
zwar romantisch, aber sie sind schon von einer neuen Zeit erfüllt.
Wie er sieht auch sie die alte Ordnung verblassen und die Ambivalenz
der Zeit scheint ihr Spiegelbild in der Ruhelosigkeit beider Gemüt
gefunden zu haben.
Wer fit war und sich zum Lauf gemeldet hatte, für den kam dann
der große Tag, der Halbmarathon von Budapest. Aber auch die
anderen waren mit den Läufern aufgebrochen um sich einen guten
Platz zum Anfeuern zu sichern. Dies konnten sie sehr bald, denn nicht
weit hinter der Spitzengruppe kam schon der Nuber Hans. Dieses Tempo
konnte er zwar nicht ganz durchhalten, aber mit 1.27 im Ziel schaffte
er eine ausgezeichnete Zeit. Aber auch die anderen Lauftreffläufer
kamen alsbald sukzessive durch, und was das Wichtigste war, alle hatten
es ins Ziel geschafft und konnten mit sich zufrieden sein. Der Süß
Georg war sogar persönliche Bestzeit gelaufen. Am Abend dann
sorgte ein Essen auf dem Schiff, während das beleuchtete Budapest
vorüberzog, für die richtige Erholung für Leib und
Seele.
Die Geschichte Ungarns sei geprägt von Unfreiheit und Unterdrückung,
erklärte uns Silvia, die uns seit der Stadtrundfahrt als Führerin
begleitete, in einem historischen Exkurs. Dafür hätten zuerst
Türken, dann Habsburger und schließlich die Russen gesorgt.
Erst seit 1989 sei das Land frei. Was aber wäre Ungarn ohne Paprika,
von dem sogar die Nationalfarben stammen: Weiß von der Blüte,
grün von den Blättern und rot von der Frucht? Es gehört
zur berühmten Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Türken,
unter denen die Ungarn am meisten litten, dieses Gewächs eingeführt
haben. Auch das Nationalgericht, das Gulasch soll auf sie zurückgehen.
Aber nicht Paprika-, sondern riesige Maisfelder nach planwirtschaftlicher
Manier, unterbrochen von kleinen Dörfern, dominierten das Bild,
das sich den Besuchern bei einem landeskundlichen Ausflug ins Landesinnere
bot. Wer diese Felder wohl anbaut? Die paar Leute in den Dörfern
jedenfalls schaffen dies nicht. In Kalocsa nutzte die Gruppe die Gelegenheit,
ein Paprikamuseum zu besuchen, bevor es in die Puszta ging. Weithin
flaches Land, so auch der Name Puszta übersetzt, bis an den Horizont,
nahm die Reisenden auf. Verfallene Ziehbrunnen ragten bisweilen aus
der Landschaft, ein paar Herden grasten. Mit Recht sprach Silvia meist
im Imperfekt, wenn sie von den großen Schaf- oder Pferdeherden
erzählte. „ Es war einmal...“, wie auch bei uns in
Deutschland die alte Bauernkultur weitgehend in Freilandmuseen konserviert
ist. An eine solche Einrichtung war man erinnert, als die Gruppe schließlich
auf dem Landgut Somodi Tanya eintraf. Hier führten tollkühne
Reiter die alten Reiterspiele der Pferdehirten und für die Puszta
charakteristische Dres-suren vor. Die Sache war umso kurzweiliger,
als sich auch die Gäste im Esel- und Pferdereiten üben konnten,
was unter großer Heiterkeit ausgiebig praktiziert wurde. Ein
gutes Essen im Freien schloß sich an. Als es schon ein wenig
dämmerte, spannte der Besitzer des Hofes seine Pferde nochmals
zu einer Kutschfahrt durch die Puszta an. Eine völlige Ruhe lag
über dem Land, einzelne Bewohner sah man langsam von der Arbeit
ihren abgelegenen Gehöften zustreben, und als dann der Nebel
stieg und das feuchte Gras duftete, wurde die Poesie dieser Landschaft
lebendig, die in so vielen Gedichten verherrlicht worden ist. Damit
endete der Tag und eigentlich auch schon die Reise, denn am nächsten
Tag hieß es schon wieder Abschied nehmen, auch von
Silvia, der es die unkomplizierte Oberpfälzische Art des Umgangs,
besonders des Sepp, unseres tüchtigen Busfahrers, angetan hatte.
War also
Ungarn eine Reise wert? Dem Raisonnierer am Anfang unseres Berichts
rufen wir ein entschiedenes „ ja“ entgegen. Budapest hat
uns allen gut gefallen, manche konnten sich gar nicht satt daran sehen.
Über Mängel am Hotelkomfort sehen wir großzügig
hinweg, sie waren im Preis inbegriffen. Auch bei den Pesolds machte
sich nach der anfänglichen Aufregung heitere Gelassenheit breit,
wofür ihnen der Chronist seinen Respekt ausdrücken möchte.
Bleibt nur noch, dem Bernhard wieder für
die Vorbereitung zu danken und endlich zu schließen mit einem
ad proximum annum, bis zum nächsten Jahr.
Helsinki, oder?
von Jakob
Jobst